„Das ganze Leben ist eine Brücke, und das Wichtigste ist, sich nicht zu fürchten“.
Es sind diese Worte seines chassidischen Großvaters, die Jehuda Bacon Zeit seines Lebens begleitet haben. Sie machten ihm Mut in furchterregenden Zeiten. Und sie halfen ihm dabei, in unmenschlichen Zeiten ein Mensch zu bleiben. Denn bereits mit 13 Jahren geriet der im tschechischen Ostrava geborene Jehuda in die Deportationsmaschinerie der Nationalsozialisten. 1942 wurde er mit seiner Familie nach Theresienstadt deportiert, ein Jahr später nach Auschwitz-Birkenau. Seine Eltern und seine Schwester überleben das Vernichtungslager nicht. Er selbst wurde gemeinsam mit 88 anderen Knaben aus bis heute unerklärlichen Gründen von Josef Mengele, dem gefürchteten KZ-Arzt, vor den Gaskammern ausselektiert. Die „Birkenau-Boys“, wie sie später genannt wurden, verrichteten fortan schwere Arbeiten im Lager.
„Unser Arbeitskommando hieß „Rollwagen“. 20 Kinder mussten zusammen einen Wagen schleppen, wie sonst die Pferde. Wir transportierten verschiedenste Sachen von einem Lagerabschnitt in einen anderen.“ Doch nicht nur das: „Eine von den Arbeiten, die wir hatten, war die Asche zu streuen auf die vereisten Wege. Und ich sah fast tagtäglich tausende Menschen verschwinden im Nu, das heißt im Gas, und nach einer halben Stunde ist da nur noch Asche.“
Durch seine Arbeit im Rollwagenkommando erhielt der 14-Jährige Zugang zu allen Bereichen des Vernichtungslagers. „Ich wollte alles genau wissen. Vor allem wollte ich wissen, was an diesen Orten passierte, von denen man normalerweise nicht zurückkam.“ Er beobachtete genau, was geschah und fertigte heimlich und unter Lebensgefahr Skizzen vom Leben und Sterben in Auschwitz an. Diese zusammen mit seinem ausgezeichneten Gedächtnis sollten Jehuda Bacon später zu einem wichtigen Zeugen im Eichmann-Prozess und in den Auschwitz-Prozessen machen. Heute sind viele seiner Zeichnungen in der Holocaust-Gedenkstätte in Yad Vashem ausgestellt.
Bis heute frage ich mich, wie es ihm möglich gewesen ist, in der Hölle von Auschwitz die Menschlichkeit zu bewahren? Er selbst sagte dazu:
„Man musste versuchen, noch eine menschliche Verbindung zu haben, ein menschliches Herz zu bewahren, um diese Zeit auch als Mensch zu überstehen. Wie zeigte sich die Menschlichkeit bei uns Kindern? Ein Beispiel fällt mir ein: In einem Transport kamen Kinder aus dem Getto Litzmannstadt. Sie waren in einem fürchterlichen Zustand. Wir waren schon ein Jahr in Auschwitz. Plötzlich, ohne dass uns jemand etwas sagte, sammelten wir unter uns Suppe für diese Kinder. Wir reichten ihnen eine Schüssel hinüber, durch die Hochpsannungsdrähte, die unsere Lagerabschnitte trennten. Das war lebensgefährlich. Eine kleine Berührung mit dem Blechnapf und es wäre vorbei gewesen. Woher kam dieser Impuls, dieses Mitleid mit den anderen? – Ich hatte als Schüler einmal vom Mythos des göttlichen Funkens in uns allen gehört. Wir hatten einen Lehrer, der aus Prag stammte. Wir Schüler liebten ihn sehr. Als er auf einen der Transporte kam, sagte er zum Abschied zu uns: `Vergesst nicht, in allen Menschen ist so ein Funke.‘ Auf mich machte das einen großen Eindruck. Ich konnte nicht wirklich verstehen, was er damit meinte. Aber ich ahnte, dass es etwas mit dem zu tun hat, was in unmenschlichen Zeiten an Menschlichem in uns bleibt.“
"Wer in der Hölle war, weiß, dass es zum Guten keine Alternative gibt."
Nach seiner Befreiung wandert er nach Palästina aus und verwirklicht seinen Lebenstraum: Er wird Maler und Professor an der Bezalel-Kunstakademie in Jerusalem. Erfahrenes Leid nicht zu verdrängen, sondern es künstlerisch und menschlich zu verarbeiten und zu transformieren, darin sieht er bis heute seinen Auftrag als Mensch und Künstler:
„Ich wollte meine Erlebnisse ganz bewusst nicht vergessen. Die Erfahrungen in den Konzentrationslagern sind Teil meines Lebens, und mein Ziel war es, auch diese Erfahrungen in etwas Positives umzuwandeln. Ich versuchte, daran zu reifen, menschlich und auch in meinem künstlerischen Schaffen. Es ging mir darum, dem ganzen Leben – in meinem Fall war das auch Auschwitz – einen Sinn zu geben. Wenn man dem Tod so nahe war, so viel Schreckliches erlebt hat, fragt man sich unwillkürlich: ‚Hat dieses Leben einen Sinn?‘ Einem Künstler kann das Leiden am Leben helfen, eine tiefere Erkenntnis zu gewinnen. Aber Gott behüte, ich will auf keinen Fall sagen, dass man unbedingt leiden muss, um das zu erfahren. Goethe war ein herrlicher Dichter mit tiefer Erkenntnis, ohne einen Tag Hunger zu leiden. Es gibt sicher viele angenehmere Wege als meinen. Für mich war es die Präsenz von übermenschlichem Tod, die ich in Auschwitz erlebt habe. Sie hat mein Leben so erschüttert, dass ich eine andere Sichtweise gewann. ‚Was kann man von Auschwitz lernen?‘ Für manche mag diese Frage verrückt klingen. Doch ich wollte mir die Antwort darauf erkämpfen und erobern und bis in die Wurzeln ergründen.“
"Immer ist man vor die Frage gestellt, ob man sich selbst oder die Welt im Sinn hat."
Wer Jehuda Bacon heute trifft, ist von seiner Güte und Sanftheit nachhaltig beeindruckt. Wie ist es möglich, dass er nach all dem Schrecklichen, das er als junger Mensch gesehen und am eigenen Leib erfahren hat, nicht den Glauben an das Gute im Menschen verloren hat? Weshalb sind in ihm kein Hass und keine Bitterkeit zu finden?
„Ich erlebte, dass man als Mensch immer die Freiheit der Entscheidung hat und dafür auch Verantwortung übernehmen muss. Immer ist man vor die Frage gestellt, ob man sich selbst oder die Welt im Sinn hat, wie Martin Buber das einmal formulierte…Entscheidend ist das Bewusstsein dafür, dass wir alle miteinander verbunden sind. Der andere ist ein Wunder, wie ich selbst, wie jeder Mensch. Für mich ist darin das Geheimnis der Liebe verborgen. Mir hat das geholfen, das Problem des Hassens zu überwinden. Wenn ich hasse, dann hat Hitler gewonnen, dann hat er mich auch infiziert und verdorben."
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